Marokko 2022: Reisetagebuch
1. - 12. November
Zagora - M’hamid - Foum Zguid - Tata - Talouine - Igherm - Tata
Das Wichtigste in Kürze:
Wir entdecken die schöne und ruhige Stadt Tata. Hier sind die Menschen freundlich und den Touristen gut gesinnt. Im Dreieck Tata – Taliouine – Igherm erleben wir atemberaubende Landschaften und Kulturgüter. In Ait Kine besichtigen wir einen beeindruckenden Agadir.
Dienstag, 1. November, Zagora – M’hamid
Wetter: Am Morgen wieder arschkalt, sonst bedeckt mit etwas Sonne am Abend. Temperatur 10 – 30°C
Immer noch gereizt von gestern machen wir uns, ohne noch etwas Proviant einzukaufen gegen Westen auf. Unser heutiges Ziel ist M’hamid von wo wir entlang des ausgedehnten Dünenfelds des Erg Chegaga bis Foum Zguid fahren möchten. Wir rechnen damit, dass wir bei unsrem heutigem Zeltplatz Nachtessen können.
Gut schweizerisch möchten wir auf unserem Weg nach Foum Zguid auch einen Eindruck vom Gebirgszug Djebel Bani mitnehmen. Deshalb fahren wir auf der Nationalstrasse gut 50 km westlich, bevor wir uns auf der Höhe von Bou-Rbia auf eine sehr steinige und anfänglich in engen Kurven sich auf den Pass hochwindende Piste machen. Die Untersetzung ist heute ein wichtiges Tool, das wir auch auf der langen Fahrt über die Hochebene, die mit Felsbändern gekrönten Tafelbergen umgeben ist, vor allem beim Überqueren der Ouadis einsetzen.
Die Route ist sehr einsam, ausser einem Mopedfahrer und einem Fussgänger mit ein paar Kamelen begegnen wir auf den ersten 45 – 50 km keiner Menschenseele. Erst in der Nähe der ersten Siedlung mit Palmgarten treffen wir auf einen Jungen und einen Bauern, die uns freundlich grüssen. Dann sehen wir die Stromleitungen – die es vor 10 Jahren gemäss Track-Beschreibung noch nicht gab – Felder, die mit dem modernen Tropfensystem bewirtschaftet werden, moderne betonierte Häuser, die immer mehr die Lehmhäuser zu ersetzen scheinen und die Strasse wird zu einer breiten geschobenen hässlichen Wellblechpiste.
Bei der Schule direkt neben der Mosche begrüsst uns eine Horde Primarschüler mit den obligaten Zeichen für Stylo, DRH, Bonbon …. Der «Forschritt» ist auch bei diesem abgelegenen Ort angekommen. Und schliesslich kreuzen wir noch eine Gruppe Touristen, die mit ihren Motocross-Rädern durch die Wüste sausen.
Die Piste wird wieder schmal uns steinig, als wir Richtung M’Hamid abzweigen. Bis wir dort ankommen gibt es noch eine weite uninteressante Ebene und ein grösseres Dünenfeld zu durchqueren, das Fabrizio ohne Mühe bravourös meistert. Müde checken wir beim Camping Sahara Services ein und verbringen noch zwei erholsame Stunden auf den orientalischen Sofas ausruhend am Pool. Eine heile und für die Wüste sehr luxuriöse und künstliche Welt, die wir heute Abend vollumfänglich und ohne schlechtes Gewissen geniessen.
Mittwoch, 2. November, M’hamid – Foum Zguid
Wetter: Bedeckt mit etwas Sonne am Abend. Temperatur 10 – 30°C
Eine ca. 160 km lange, mehrheitlich sandige Piste steht uns heute bevor. Für unsere Verhältnisse früh, verlassen wir bereits um 09:00 das Camping Sahara Services. Wir sind nicht die einzigen, die sich entschieden haben, früh zu starten. Eine Gruppe Spanier und Franzosen rasen beim Verlassen des Zeltplatzes an uns vorbei. «Es ist nicht Black Friday» ruft Fabrizio den Vorbeiflitzenden hinterher.
Unmittelbar nach M’hamid treffen wir auf die ersten kleinen Dünen. Im Morgenlicht lassen sich die Fahrspuren durch die einfachen Dünen kaum ausmachen. Hannibal zeigt jedoch, was er unter der Motorhaube zu bieten hat und wir kommen gut vorwärts. Nach weitere 30 km zeigen sich die Ersten Vorposten des Erg Chegaga. Die Dünen sind mit schwarzem Geröll überzogen und bilden ein schönes Fotomotiv. Vor uns erkennen wir ein Netzwerk von Pistenspuren. Aus Sicherheitsüberlegungen wählen wir diejenige aus, die am deutlichsten erkennbar ist. … und prompt landen wir in einem Meer von hohen Dünen, mit engen Kehren sowie steilen Auf- und Abfahrten. Und irgendwann wird es auch für Hannibal zu viel und wir bleiben in einer Senke stecken. Fabrizio setzt die Untersetzungen ein, fährt kurz rückwärts, und schafft sich so einen kurzen Anlauf, um Hannibal mit einer dezidierten Drehzahl über die nächste Düne zu manövrieren. Wir sind froh, dass wir hier auf keinen Gegenverkehr treffen. Da es ausserhalb der Fahrspuren kaum Platz zum Ausweichen gibt, wäre ein Abweichen von der Hauptspur nur mit viel Schaufelarbeit zu meistern.
Wir umfahren den Erg Chegaga an seiner linken Flanke, treffen hier auf freilaufende Kamele und Esel (darunter auch manche auf vier Rädern) und beobachten aus der Distanz die unzähligen Zeltcamps zu Füssen der Sanddünen.
Sandpisten fahren hat ein gewisses Suchtpotenzial. Es ist, als ob man auf einem Seidentuch fahren würde. Weich, gedämpft … fast lautlos. Nichts zu vergleichen mit der wellbrechartigen und steinigen Piste, auf die wir dreissig km vor Foum Zguid stossen werden.
Nach dem Erg Chegaga erwartet und der ausgetrocknete See Iriqui. Flach wie eine Tortilla, hart wie Beton. Hier geniessen wir wieder die berauschende Wirkung des Schnellfahrens. Mit vierzig Sachen «brettern» wir über den See. Eine Fata Morgana zeigt sich am Horizont und lässt diese ausgetrocknete Wüste für einen Moment wie ein Meer erscheinen.
Wir erreichen Foum Zguid nach einer ohrenbetäubenden Rüttelpartie. Uns schmerzt das Herz, Hannibal eine solche Tortur zugemutet zu haben. Dass er gelitten hat, zeigt sich an den beschädigten Pneu Profilen. Dies, obwohl wir sachte gefahren sind und den Reifendruck entsprechend der Pistenbeschaffenheit reduziert haben.
Donnerstag, 3. November, Foum Zguid
Wetter: Blauer Himmel mit leichter Brise. Temperatur 13 – 30°C
Zum Glück haben wir beim Camping Oasis Palmerai eine diskrete Bleibe gefunden (das Camping ist sauber, grosszügig angelegt, hat grosse Duschen und Toiletten und man bekommt auf Wunsch auch ein kaltes Bier), um uns und Hannibal einen Moment Pause zu gönnen. Nach der gestrigen Holperfahrt ist heute Ruhetage angesagt.
Wir können uns noch knapp motivieren, den Souk zu Fuss zu besuchen. Foum Zguid ist für kurze Zeit das Zentrum des Universums geworden. Menschen strömen aus allen Himmelsrichtungen her. Zu Fuss (die meisten), mit dem Esel (zweibeinig oder vierrädrig), zu dritt oder zu viert auf einem Mobilette oder in einem überfüllten Sammeltaxi.
Alles, was man so im Alltag braucht, findet man heute unter den unzähligen Zelten der Markstände. Ein Set Schraubenzieher gefällig? Here you are! Neue Plastiksandalen Made in China für die Kids? Kein Problem! Ein gebrauchter Mixer für gesunde Smoothies? Yes! 100 m verzinkter Stacheldraht? Autsch!
Wir staunen über das vielfältige Angebot. Nicht nur Gebrauchsgegenstände werden angeboten, auch Kosmetika, Kräuter und Gewürze, Gemüse, lebende und tote Tiere. Insbesondere bei den Metzgereiständern muss man sich ernsthaft fragen, ob man nicht besser zum Vegetarier konvertiert.
Während Sabine Bananen kauft, bleibe ich auf den Stufen des Ladens stehen und schaue mir das emsige Treiben an. Es ist in diesem kurzen Moment, wo ich das Gefühl nicht loswerde, dass jemand mich beobachtet. Ein abgetrennter Rindskopf am Fuss der Treppe schaut fragend zu mir hinauf «Wo ist der Rest von mir nur geblieben?». Ich habe zu dieser Frage keine Antwort bereit.
Freitag, 4. November, Foum Zguid – Rundkurs
Wetter: Blauer Himmel mit leichter Brise. Temperatur 13 – 30°C
Die Wüste ruft. Die traumhaft schöne Tafelbergkulisse des El Mdaouer EL Kbir südlich von Foum Zguid sind unser heutiges Ziel. Wir stehen für unsere Verhältnissen sehr früh auf (06:30), sodass wir die Tafelberge in der Morgensonne fotografieren können. Eine holprige Strecke von ca. 20 km muss aber zuerst überwunden werden. Als wir dort ankommen beleuchtet die Sonne die Bergflanken mit ihren fahlen Strahlen. Nervende Fliegen sind auch bereits wach und gehen uns sofort auf den Geist. Wir suchen und finden auch ein schönes Plätzchen und bereiten uns das Frühstück zu. Abgesehen von den Fliegen ist es hier draussen sehr ruhig.
Nachdem wir uns sattgesehen haben, folgen wir der Piste weiter in Richtung Süden bis an die Grenzen des Iriki Sees, hier biegen wir rechts ab und folgen den frischen Spuren eines Lastwagens in Richtung Norden. Keine Steine weit und breit. Es ist eine ruhige Fahrt über kompakte Dünen.
Wir erreichen einen Militärposten. Hier an der algerischen Grenze sind die Posten gut sichtbar auf Hügeln gebaut und befinden sich wie die Perlen einer Kette in regelmässigen Abständen entlang der Grenze. Bereits von Weitem sehen wir einen Soldaten den Hügel hinunterlaufen. Als wir beim Posten ankommen, grüsst er uns freundlich und fragt nach der «Fiche». Er trägt einen Tarnanzug und weisse Adidas-Plastiksandalen … und er verfügt noch über alle Zähne! Er wirft einen uninteressierten Blick auf die «Fiche», vergleicht kurz die Angaben mit denen von unseren Pässen und gibt uns zu verstehen, dass alles in Ordnung sei und wir weiterfahren dürfen.
Gegen 15:00 schliessen wir den Kreis der Rundfahrt um dem El Mdaouer EL Kbir, vor uns die 20 km lange Holperpiste bis Foum Zguid. Am Campingplatz angekommen, bestellen wir bei Rachid, dem Campingbesitzer, zwei kühle Biere und eine Tajine de Poulet für den Abend.
Den Rest des Tages verbringen wir mit Abstauben, Kleider waschen und aufhängen.
Samstag, 5. November, Foum Zguid – Tata
Wetter: Blauer Himmel mit leichter Brise. Temperatur 13 – 30°C
Wir haben genug von staubigen und steinigen Wellblechpisten und tuckern gemütlich auf Asphalt nach Tata. Wir geniessen diese einfache Fahrt durch eine einsame Wüstengegend. Auf dieser knapp 140 km langen Fahrt begegnen wir nicht einmal einer Handvoll Fahrzeugen. Wir kommen an nicht mehr als fünf Dörfern vorbei. Der Tissint See ist ausgetrocknet und die gleichnamigen Wasserfälle weisen Wasser auf, was uns in dieser knochentrockenen Gegend erstaunt. Das Wasser ist hier sehr salzhaltig, wovon die mit Salzkristallen überzogene Erde zeugt. Die Häuser an der Durchfahrt von Tissint sowie die neu erstellten und unverputzten Behausungen dahinter laden uns nicht zu einem Besuch des Städtchens ein. Grösseres Interesse erwecken die tiefen Bodenerosionen am Ausgang der Stadt. Allerdings finden wir keine Zufahrt und zudem ist das Licht zum Fotografieren zur Mittagszeit alles andere als Ideal.
In Tata gelangen wir nach Kilometern in der obligaten anonymen Neustadt zum interessanten Kern, wo die Einkaufsstrassen gegen die Hitze mit Arkaden überdacht sind. Gegen Abend besuche wir das kaum einen Kilometer vom Camping entfernte Zentrum zu Fuss … und wir werden überrascht: Ob Jung oder Alt, Frau, Mann oder Kind alle begrüssen uns mit einem Lächeln und dem Obligaten «ça va? Soyez bien venus …» und keiner verlangt etwas von uns. Als uns eine Taxifahrerin mit «Soyez les bienvenues! Ici vous êtes chez vous» anspricht, bleiben wir sprachlos am Strassenrand stehen – wann wurde wohl ein Gast in der Schweiz auf diese Weise begrüsst? Nach fünf Wochen Marokko ist es paradiesisch so unbeschwert in einem Städtchen promenieren zu können. «Schugran Tata, schugran»! Für uns ist klar, hier werden wir einen weiteren Tag bleiben und uns erholen.
Wir schlendern entspannt durch die Gassen. In einem Strässchen konzentrieren sich die Werkstätte der Motorrad-Mechaniker, in einem anderen diejenigen der Spengler und in der nächsten Gasse, in die wir abbiegen reihen sich Kleiderboutiquen an Kleiderboutiquen. Hier wir alles feil geboten, was das Herz der Frauen hoch schlagen lässt.
Tata hat auch diverse schöne «Murales» vorzuweisen. Wandgrosse Zeichnungen schmücken die Fassaden der Häuser. Hinter einer vorgezogenen Gardine hören wir Trommelmusik und laute Frauen-Gesänge. «Ein Kinderfest ist im Gange» verrät uns ein Passant.
Die Sonne liegt tief über dem Horizont und es bilden sich lange Schatten. Die Pastellfarben der Fassaden leuchten in diesem goldigen Licht. Frauen in ihre traditionellen Gewänder gekleidet laufen an uns vorbei, lächeln Sabine freundlich an und grüssen uns mit «Bonjour!»
Sonntag, 6. November, Tata
Wetter: Blauer Himmel. Temperatur 13 – 30°C
Ruhetag vom Reisen nicht aber von den Alltagspflichten wie Tagebuch schreiben, Fotogalerien zusammenstellen, Blogg aktualisieren sowie putzen und waschen und auch sich informieren, was in der Welt so läuft.
Montag – Dienstag, 7.-8. November, Tata – Akka Irhen – Taliouine mit Abstecher in die Tislit Schlucht
Wetter: Blauer Himmel mit einzelnen Wolkenbändern. Temperatur 10 – 22°C
Heute liegt eine lange (rund 170 km) mit diversen Highlights ausgeschmückte Strecke vor uns. Zum zweiten Mal nach dem Jebel Sarhro tauchen wir intensiv und tief in den Antiatlas ein.
Auf der Fahrt nach Akka Ihren liegen vor uns je nach Sonneneinstrahlung rosa, grüne, beige- und auberginefarbene runde Berge. Neben uns die fast vegetationslose Steinwüste unterschiedlicher Couleur. Vereinzelt verzieren breitkronige Akazien den Horizont. Und dann unvermittelt in der Einöde das erste Etappenziel Akka Ihren, wo uns die rege Bautätigkeit ins Auge springt. Sie kündigt sich bereits durch neue Pflanzungen an, die mit «Drop by drop-Bewässrungssystemen» und Solaranlagen, die das Grundwasser für die Felder hinaufpumpen, ausgerüstet sind. Modernes und altes Wissen werden hier vereint.
Im Dorf selbst scheint jedes Haus um ein Stockwerk erhöht und für ein weiteres vorbereitet worden zu sein – die Armiereisen ragen über die aktuell oberste Etage hinaus. Hier wird unser Eindruck bestätigt, dass Marokko ein Land im Aufbruch ist. Als Autofahrer ist Aufmerksamkeit gefragt: Kinder spielen auf der Strasse, Männer rasten am Wegesrand, Frauen schleppen auf ihrem gebeugten Rücken schwere Gras-, Palmwedel- oder Holzbündel und unvermittelt verlangt ein schlafender Polizist (Schwelle) ein weiteres Abbremsen. Ein Stoppen verlangt auch ein mitten auf der Strasse stehendes Auto, das Auto eines Fahrlehrers wie wir beim Näherkommen erkennen. Der Fahrschüler versucht auf einer Furt, das Fahrzeug zu wenden. Allerdings will der verflixte erste Gang nicht einspringen und so nähert er sich rückwärts mit gefährlichen «Sprüngen» immer näher der betonierten Furtkante, deren «Überrollen» zu einem beträchtlichen Blechschaden führen könnte. Der Fahrlehrer greift zum Lenkrad und zur Gangschaltung und hilft so dem schweissgebadeten Schüler aus der misslichen Situation. Als wir ihn kreuzen, lächelt er uns etwas verlegen entgegen.
Auf Asphalt aber nicht weniger spektakulär geht es weiter bis zur Einmündung der Piste Foum Zguid – Taliouine. Auf der weiten steinigen Hochebene hat es kaum Verkehr. Dann fahren wir durch ursprüngliche Oasen, wo uns die Bewohner freundlich zuwinken und kommen an alten heute nicht mehr gebrauchten Kornspeichern vorbei. Auf einer Passhöhe erwartet uns ein Panorama der Superlative über moiré-gemusterte Berge. Was von weitem sanft wie Seide aussieht, wirkt von Nahem brachial und lässt die gewaltigen geologischen Kräfte, die vor Urzeiten auf diese Gesteinsmassen gewirkt haben müssen, erahnen.
Die Passage durch die Schlucht entlang natürlicher Palmhaine, ausgespäht von Ruinen ehemaliger Befestigungsanlagen, lässt uns sprachlos – was für eine Pracht, die glücklicherweise von der Tourismusindustrie, den Menschenmassen und den damit verbundenen Souvenirverkäufern (à la Gorge du Dades oder Todra) noch nicht entdeckt wurde und wir ganz alleine für uns haben. Wir fühlen uns wie Glückspilze!
Kurz nachdem wir nach etwas mehr als 90 km auf die Piste Foum – Taliouine abzweigen, erwartet uns die bezaubernde Oase wie aus 1001-Nacht Timzoughine. Doch wir haben uns getäuscht, der üppige paradiesische Garten wird noch übertroffen, als wir durch die engen Gassen und Pfade der Oase Aguinan fahren. Nur kein Gegenverkehr beten wir, bitte nur dies nicht! Die paradiesische Schönheit können wir erst richtig geniessen, als wir uns später den Film anschauen und glücklich darüber sind, dass wir die sehr engen Passagen durch Ort und Palmhain schadlos überstanden haben.
Am Ortsausgang und kurz nach der Abzweigung zu einer weiteren Passstrasse treffen wir auf den gefürchteten Gegenverkehr, ein einheimischer Kastenwagen (mit laut quietschenden Bremsen) und fünf französische Offroad-Fahrer. Wir können glücklicherweise zurückfahren oder ausweichen auf dieser sehr steilen und engen Piste. Uff!!!
Nach der Passhöhe wird das steinige Gelände durch Grasbüschel abgelöst. Mit zugekniffenen Augen fühlen wir uns an die Schweizer Alpen erinnert. Wir treffen auf Schaf- und Ziegenherden, die von Hirten und Hunden langsam Richtung Tal getrieben werden. Zelt und der ganze Haushalt der Nomadenfamilien werden auf Lastwagen geladen. Der Winter naht auch hier im Antiatlas auf rund 1500 – 1900 m ü. M.
Gegen Abend treffen wir übermannt von den vielen Eindrücken in Taliouine ein und sind glücklich darüber, dass das Camping uns müden Reisenden am Abend eine mit reichlich Gemüse angereicherte Tajine au Poulet serviert.
Am nächsten Tag nehmen wir die rund 50 km zur Tislit-Schlucht unter die Räder. Eine schöne Fahrt, aber nicht zu vergleichen mit dem was uns in der Schlucht erwartet. Über zwei Stunden steigen wir über grosse Steine, balancieren über Bewässerungskanäle und knipsen Foto um Foto.
Wieder im Dorf zurück werden wir von vielen Frauen begrüsst, die für uns Dutzende von Khelims auf den felsigen Hügeln ausgelegt haben. Einige verspätete ältere Frauen kommen keuchend den Hügel heraufgeeilt, nachdem wir bereits beim zweiten Durchgang sind an. Ausgerüstet mit Massband vermessen wir die Kunsthandwerke. WIR WISSEN, WAS WIR SUCHEN! Amüsierte Augenpaare verfolgen jede unserer Handlungen. Bei unserer Abreise lassen wir drei besonders leuchtende Augenpaare zurück, nämlich diejenigen von zwei jungen Mademoiselles (sie bestehen ausdrücklich darauf, sie als «Mademoiselles» anzusprechen) und jene einer älteren Frau. Bei diesen Weberinnen haben wir je einen Teppich gekauft. Schlussendlich statten wir noch dem Gästehaus einen Besuch ab und geben dem etwas aufdringlichen Ersuchen einer Frau nach, die uns seit unserer Ankunft im Dorf bedrängt hat. Mit dem Tee weist sie uns auch auf den örtlich angebauten Safran hin. Im Hinterzimmer pflückt ein junger Mann die Safranfäden von den Blüten. Wir gehen das rund 12 CHF-teure Wagnis für 4 Gramm des kostbaren Gewürzes ein.
Mittwoch, 9. November, Taliouine – Ighrem – Tata
Wetter: Blauer Himmel. Temperatur 13 – 30°C
Die Nacht war kalt. Der Winter kündigt sich bereits an. Bei Vollmond liegt etwas Spannung in der Luft. Wir schlafen schlecht. War es der Tomatensalat oder die üppige Tajine de Kefta, die wir zum Nachtessen verspeist haben?
Die heutige Etappe führt uns von Taliouine nach Ighrem und zurück nach Tata. Die Regionalstrasse 106 führt über den Pass Tiz-n-Tleta und entlang einer weiten und kargen Talsohle. Auf vielen Hügeln sind die Ruinen von ehemaligen Burgen und Kasbahs zu sehen. Die Strasse ist bis auf unzählige beschädigte Brücken asphaltiert. Die Brücken wurden im Frühsommer von kräftigen Schauern weg-bzw. unterspült. Notdürftige «Umfahrungen» wurden erstellt. An diesen Umfahrungen treffen wir auf die bis zum Achsbruch beladenen Lastwagen, die nur im Schneckentempo auf der teilweise ruppigen Piste vorwärts kommen.
In Ighrem möchten wir einen alten Kornspeicher besichtigen. Als wir dort ankommen ist leider der Wächter abwesend. Uns bleibt nur die Möglichkeit, den schönen verzierten Speicher von aussen zu betrachten und zu fotografieren.
Als wir Ighrem auf der RR116 in Richtung Tata verlassen, wissen wir noch nicht welche wunderschöne Strecke uns erwartet. Ein Höhepunkt folgt dem anderen. Knapp 90km der Superlative! Zu Beginn scheinen die Berge wie aus unterschiedlich dicken Blätterteig- oder eher Lasagneschichten zu bestehen. Dunkle Schichten alternieren mit helleren. Einmal horizontal, einmal bilden sie gewaltigen Bögen oder sie sind senkrecht nach oben geschoben worden wie die grillierten Toastbrotscheiben bei einem englischen Frühstück.
Wir befinden uns auf einem Hochplateau. Unweit vom Dorf Izare windet sich die Strasse mit steilen Serpentinen den Pass hinab und öffnet sich zu einer spektakulären breiten Schlucht. Wir sind uns einig, diese Schlucht übertrifft die Schönheit der Gorges du Dades. Grüne Palmenhaine zeugen von grossem Wasservorkommen. Kleine Dörfer säumen die Strasse. Es handelt sich durchaus um eine «gefährliche» Strecke, nicht fahrtechnisch, sondern das schöne Panorama verleitet einem dazu, weniger auf die Strasse zu achten. Doch, Fehler sind hier keine erlaubt.
Ein bitterer Gedanke stösst bei all dieser Schönheit auf: Wird die künftige Generation das entbehrungsreiche und arbeitsintensive Leben auf sich nehmen, um diese Pracht aufrechtzuerhalten oder wird das vermeintlich angenehmere Leben in den Städten Oberhand gewinnen?
Wie es bei uns so üblich ist … wenn es uns gefällt, dann bleiben wir. Wir haben Tata und seine freundlichen Einwohner ins Herz geschlossen. Als wir zum Camping Les trois Palmiers zurückkommen, werden wir vom Besitzer mit einem breiten Lächeln willkommen geheissen.
Wir parkieren Hannibal neben Françis und Isabelle, zwei Franzosen, die seit 12 Jahren nonstop unterwegs sind. Wir werden mit ihnen in den nächsten Tagen unzählige Stunden reden, Reiseanekdoten austauschen oder einfach über Gott und die Welt schwatzend verbringen.
Donnerstag – Montag, 10. – 12. November: Tata und Umgebung
Wetter: Blauer Himmel. Temperatur 13 – 30°C
In den drei Tagen, die wir in Tata verbringen, besichtigen wir (auf Empfehlung von Françis und Isabelle) zuerst Felsgravuren, die etwa 50 km entfernt in Richtung Imitek liegen. Es soll die «Sixtinische Kapelle» der marokkanischen Felsgravuren sein. Dank den GPS-Koordinaten finden wir … nach langem Suchen … die «paintures rupestres», aber Leonardo Davinci ist sicherlich nicht hier gewesen. Die Gravuren sind schön aber hauen uns nicht um.
Nach dem gestrigen Ausflug besuchen wir heute gar nichts. Sabine wäscht unsere verstaubten Kleider, ich lege eine zweite Schwatzrunde mit Françis und Isabelle ein. Danach improvisieren wir unser Nachessen. Wir finden in Tata Barilla Spaghetti Nr. 7! Wir lassen drei grosse Zwiebeln mit etwas Cayenne-Pfeffer karamellisieren, geben drei Dosen Thon dazu und rühren kurz vor dem Servieren noch zwei grosszügigen Esslöffel Kapern darunter. Es mundet einfach himmlisch.
Nach den Spaghetti strecken wir unsere Beine, indem wir bis ins Zentrum von Tata flanieren. Beim Verlassen des Campings werden wir vom Senior Besitzer angesprochen. Ein sehr stolzer älterer Herr, der während 40 Jahren Gemeindepräsident von Tata war. «Was habt ihr morgen vor?» fragt er uns mit seiner sehr melodischen aber irgendwie auch bestimmten Stimme. Bevor wir seine Frage überhaupt beantworten können, doppelt er nach: «Habt ihr Interesse, die lokale Kooperative TATA BIO zu besuchen? Dort werdet ihr Teppiche und Kunsthandwerk sowie Lebensmittelprodukte sehen und auch kaufen können. Alles wird hier und in der Umgebung von Tata hergestellt».
Wir schauen uns gegenseitig an und nicken kurz mit dem Kopf. «Also morgen um 10:00 Uhr. Ist dies ok für euch?». «Ja» antworten wir ohne lange zu überlegen. «Ich werde euch mit meinem Auto abholen und dorthin fahren» gibt er uns zu verstehen. Das ganze Gespräch hat nicht einmal zwei Minuten gedauert. Etwas verdutzt und mit dem Gefühl irgendwie überrumpelt worden zu sein, verlassen wir den Zeltplatz Richtung Stadtzentrum.
Mit fast schweizerischer Präzision werden wir am nächsten Morgen Punkt 10:00 abgeholt. Ein staubiger «Dacia Logan» erwartet uns vor dem Campingeingang. Die Fahrt zur Kooperative ist kurz. Wir werden dort bereits erwartet. In einer grossen Halle sind neben Teppichen, unterschiedliche Sorten von Couscous, Amlou sowie geröstete Mandeln ausgestellt. Mit Palmblättern geflochtene Körbe und Teller teilen sich die staubigen Tablare mit ebenso staubigen Tajine-Gefässen. Ein junger Angestellter versucht, uns in einem Mix aus Französisch und Englisch Auskunft über die ausgestellte Ware zu geben. Zwischen zwei improvisierten Sätzen lächelt er uns verlegen an.
Als wir einen Teppich kaufen möchten, sagt er uns, dass es sich nur um ein Ausstellungsstück handelt und unverkäuflich sei. «Dieser Teppich wird für den Kunden nur auf Bestellung gewoben». Sabine sucht sich danach einen gestickten Schal und ich ein Kilo geröstete und mit Sesamsamen und Honig umhüllte Mandeln aus.
Wir verlassen die Kooperative irgendwie enttäuscht, weil uns der Teppich nicht verkauft wurde. Kaum sind wir im Auto, fragt uns unser Begleiter, ob wir den Agadir von Ait Kine bereits besucht haben. «Nein, wir fuhren zwar in der Nähe vorbei, haben ihn aber nicht finden können» antworten wir. «Ich könnte den Agadir-Wärter anrufen und ihm ankündigen, dass ihr vorbeikommt … was meint ihr?». «Gut» antworten wir wieder. «Ihr werdet nicht enttäuscht werden, es soll einer der schönsten und am besten erhaltenen in Marokko sein» preist uns der Ex-Gemeindepräsident, der aktuell ein Amt als Tourimusförderer innehat, an.
Gesagt getan, nicht einmal eine Stunde später befinden wir uns mit Hannibal auf dem Weg nach Ait Kine. Ait Kine liegt zwischen zwei mächtige Bergketten und wird von Wachtürmen geschützt. Aus Beton gefertigte Berberfiguren und eine farbige Wandschrift «Welcome to Ait Kine» heissen uns willkommen. Eine Handvoll Frauen sitzt sich vor der Sonne unter einem Torbogen schützend am Dorfeingang und diskutiert aufgeregt miteinander. Hie und da kichern sie. Als sie uns entdecken werden sie leise, beobachten uns aus den Augenwinkeln und verhüllen ihre Gesichert mit dem Kopftuch. «Bonjour» rufen wir ihnen zu. «Bonjour, vous allez bien?» antworten sie unisono. Wie so oft beschränkt sich unsere Konversation mit ihnen auf diese zwei Standardsätze.
Eine enge Gasse führt uns zum Kornspeicher. Die Mittagshitze staut sich bereits zwischen den Lehmwänden der Häuser. Eine wohlige Wärme umhüllt uns. Als wir vor dem Eingangstor des Agadirs ankommen staunen wir über seine Schönheit und die filigranen Dekorationen, die seine Oberfläche verzieren. Ein vorbeilaufender Dorfbewohner ruft uns zu, er werde den Speicherwächter benachrichtigen, dass wir da sind. Nicht einmal zwei Minuten später taucht ein schmächtiger Herr mit sehr lebendigen Augen auf und heisst uns mit einem breiten, zahnlosen Lächeln willkommen. Er macht für uns das Tor auf und wir betreten das Innere. Dabei müssen wir uns bücken, um den Kopf nicht anzuschlagen. «Es ist so gewollt, um den Besucher zur Demut zu zwingen» erklärt er uns.
Die Wände des Kornspeichers sind links und rechts mit vielen kleinen dekorierten Holztüren auf unterschiedlichen Ebenen dursetzt. Jede Türe hat eine Nummer, jede Türe gehört einer Familie. Hinter den Türen werden nicht selten die Familienschätze aufbewahrt: Testamente, Kaufakten, Kopien von Grundbuchamtseinträgen, Geburtsurkunden, Lebensmittel …
Der Wächter zeigt uns einige Dokumente, die zur Aufbewahrung und zum Schutz in Bambusröhren gelagert sind. Dünnes Pergamentpapier wurde mit roter Tinte (Henna?) beschrieben oder mit Zeichnungen versehen. Glücklicherweise und Dank der Anwesenheit eines Wächters haben hier Diebe keine Gegenstände entwenden können … wie es in anderen Agadiren der Fall gewesen ist.
Eine «nicht Suva-konforme» Leiter aus einem Palmenstrunk, in dem tiefe Kerben eingeschlagen wurden, führt zu den Speicherräumen. Obwohl der Wächter bereits in seinen Siebziger ist, klettert er (zu Demonstrationszwecken) eine solche Leiter mit der Leichtigkeit einer Bergziege hinauf. Oben angekommen strahlt er uns so an, als ob er soeben die Eiger-Nordwand bezwungen hätte.
Nach einer knappen Stunde sind wir wieder draussen in den Gassen unterwegs und werden von einer älteren Frau angesprochen: «Möchtet ihr unsere Jugend-Kooperative besichtigen?». «Hier lernen junge Frauen, traditionelle handwerkliche Produkte zu fertigen: bestickte Stirnbänder, Silberschmuck, Kinderbekleidung sowie Lebensmittel …». Wir sagen ja und folgen ihr zu einem Raum in einem Hinterhof. Dort erwarten uns in einem spartanisch eingerichteten Raum drei aufgeregte junge Mädels. Rechterhand stehen fünf Nähmaschinen mit Tretpedalen, links eine Reihe von Plastiksäcken mit einer bräunlichen Substanz gefüllt (es handelt sich um einer Art Mehl, das man zum Frühstück mit Milch zu einem stärkenden Mus vermischt). In der Raummitte steht ein langer mit einem Plastiktuch bedeckter Tisch. An den Wänden hängen selbstgenähte Kinderkleider und Tücher. Die allgegenwärtigen Fliegen tun, was sie am besten beherrschen … sie gehen einem einfach unermüdlich auf den Sack!
Als wir zwei Säckchen gefüllt mit linsenartigen Samen kaufen (die Samen sollen die Verdauung anregen … und nach den unzähligen verspeisten Tajines und Weissbrotlaiben … sind wir um jegliche Hilfe dankbar) freut sich unsere Begleitdame sichtlich. Sie flüstert Sabine ins Ohr «Durch ihren Kauf motivieren Sie die jungen Mädchen, weiterzumachen».
Wir verabschieden uns herzlich und laufen zu Hannibal zurück. Kaum eingestiegen klopft ein Mann an die Fensterscheibe. Es fällt uns auf, dass er immer noch im Besitz all seiner Zähne und festlich gekleidet ist. «Möchtet ihr mein Haus besichtigen?» fragt er uns unaufdringlich. Neben dem Parkplatz wird gerade ein sehr schönes Haus renoviert. Wir haben dieses bereits bei unserer Ankunft gesehen und neugierig einen Blick über die Zaunmauer geworfen.
«Ok!» antworten wir, unsicher auf was wir uns gerade eingelassen haben. Er erklärt uns, das Haus sei in seinem Familienbesitz und er und sein Bruder haben vor zwei Jahren entschieden, es zu renovieren. «Wir wollen es zu einem Hotel umgestalten» verrät er uns. Zurzeit wird aber lediglich an den Aussenmauern, die das Haus und den Garten umgeben, gearbeitet. «Es kostet viel zu viel Geld» beklagt er sich später etwas nachdenklich, als ob er sich nicht mehr ganz sicher über sein Vorhaben sei.
Beim Haus handelt sich um eine 700-Jahre alte Konstruktion auf drei Stockwerken. In der Mitte ist ein Hof, der von einer Reihe von Arkaden umgeben ist. Die ursprünglichen farbigen Wanddekorationen sind hie und da durch die Staubschicht noch ersichtlich und zeugen vom Reichtum der früheren Bewohner. Bei der Besichtigung werden uns diverse Räumlichkeiten gezeigt: hier die Küche, da der Gebetsraum, dort drüber die kleinen und fensterlosen Schlafzimmer … Unrat und Taubenkot bedecken den Boden, das aufdringliche «Parfum» von Katzenurin liegt schwer in der Luft.
Wir fühlen uns sehr privilegiert, eine solche «Kostbarkeit» zu Gesicht bekommen zu haben. Als wir wieder zu Hannibal zurücklaufen, schenkt uns der Hausbesitzer einen Bund betörend riechenden Basilikum, den wir am Abend mit einem Teller Spaghetti vertilgen.