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Piste zwischen Maçanet de Cabrenys (E) und Amélie les Bains (F)
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  • Beitrag zuletzt geändert am:Januar 28, 2025
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Spanien 2021: Reisetagebuch

28. Juni - 1. Juli

Figuères - Vingrau (Frankreich)

 

Das Wichtigste in Kürze:

Wir haben uns entschieden, Sabine’s Bruder Ueli und seiner Frau Irene, die in Vingrau (20 km nord-westlich von Pérpignan) in einem Haus in den Sommerferien sind, einen Besuch abzustatten. Wir überqueren die Grüne Grenze zwischen Spanien und Frankreich über Stock und Stein und verbringen drei herrlichen Tagen in den Pyrénées-Orientales.

 

 

Montag, 28. Juni – Donnerstag, 1. Juli: Vingrau (Frankreich)
Wetter: Sonne mit leicht kühlem Wind, Temperatur 27°C

Wir haben uns entschieden, Sabine’s Bruder Ueli und seiner Frau Irene, die in Vingrau (20 km nord-westlich von Perpignan) in einem Haus in den Sommerferien sind, einen Besuch abzustatten. Wir sind von der Freude sie wieder zu treffen und von der Neugierde Vingrau kennenzulernen getrieben. Wir haben so viel über dieses Dorf gehört, dass wir uns die Chance nicht entgehen lassen können, endlich einmal diesen Ort mit eigenen Augen zu sehen. Vingrau liegt via Autobahn etwa 80 km von Figueres entfernt. So einfach wollen wir es uns aber nicht machen. Wir wählen aus dem Offroad-Buch von Abenteuer Pistenkuh «Pyrenäen» eine raue Piste über die Berge. Sie führt von Maçanys de Cabrenis (Spanien) nach Amélie – les – Bains. Aufgrund der steilen Anstiege und den Engstellen im Wald ist die Piste mit Schwierigkeitsgrad 3 klassifiziert.

Kurz nach Maçanys de Cabrenis steigt die Piste steil an. Der Untergrund ist fest und stabil, Hannibal’s Räder haben einen guten Griff. Wir kommen langsam, aber stetig voran. Bei den Engstellen – meist durch Ginster- und Brombeerbüsche zugewachsene Pistenabschnitte – bekommt Hannibal seinem Lack «aufpoliert». Diese Büsche stehen der Piste Spalier. Sie sind noch vom gestrigen Regen nass. Kaum werden sie von Hannibal gestreift, steigen Scharen von Fliegen, Bienen, Schmetterlinge, Bremen und Hornussen in die Luft. Ein infernalisches Ballett von aufgescheuchten Insekten, die bei offenem Fenstern die Fahrerkabine unter Belagerung nehmen. Wir versuchen, sie mit spastischen Handbewegungen aus der Kabine zu verscheuchen. Insbesondere vor den Hornussen haben wir grossen Respekt.

Wir lassen den Wald hinter uns und tauchen mit Hannibal in einen engen Tunnel von Ginster- und Brombeersträuchern ein. Sie reichen bis zur Fahrerkabine. Die Fahrspur ist jetzt deutlich enger geworden. Die Platten, die wir zum Schutz von Getriebe und Motor eingebaut haben, schleifen teilweise am Boden. Als wir den Bergkamm erreichen, erwartet uns eine spektakuläre Weitsicht.

Die Abfahrt gestaltet sich einfach. Wir folgen einer unklaren Spur durch eine Farnwiese, dann schlängeln wir uns durch einen Wald mit alten Kastanienbäumen und erreichen ohne grosse Schwierigkeiten einen Gott-verlassenen Bauernhof. Oh Schreck! Ein aufgegebener, verrosteter Traktor blockiert die Piste! Mit etwas Glück kommen wir an ihm vorbei und treffen kurz danach den Besitzer:  Einen kleinen Schaufelbagger manövrierend, versucht er, die tiefen Auswaschungen (die wahrscheinlich vom Regen der letzten Wochen verursacht wurden) mit Erde und Steinen zu reparieren. Als er uns entdeckt, fährt er den Bagger auf die linke Seite der Piste und lässt uns durch. Als wir mit Hannibal auf gleicher Höher mit seiner Fahrerkabine sind, wirft er uns einen Blick zu, der uns das Blut in den Venen zum Stocken bringt. Seine Augen sitzen tief im Kopf und sind nur noch zwei winzige Schlitze. Er scheint uns zu bemustern. Er beobachtet uns, wie ein Leopard seine nächste Mahlzeit. Sein Gesicht ist zu einer starren Maske verkommen, emotionslos, aggressiv, indifferent. Als wir ihm mit einem «freundlichen Hola» begrüssen, bleibt er im Gegensatz stumm wie ein Stein.

Obwohl sich das Ganze in nicht einmal 30 Sekunden abspielt, empfinden wir diese Begegnung wie eine Ewigkeit. Alles läufts in uns wie in Slow-Motion ab. Wir vergleichen diesem Moment mit einer Szene von John Boorman’s Film «Deliverance» (oder in Deutsch «Beim Sterben ist jeder der Erste»), wo Burt Reinolds – zu seiner Zeit «the sexiest man alive» – zusammen mit John Foight (der Vater von Angelina Jolie) einen Fluss mit einem Kanu hinunterpaddeln möchte, bevor dieser durch einen Staudamm für immer verschwindet. Als sie mit ihrem Offroader bei den Quellen des Flusses ankommen, treffen sie auf eine kleine Ansammlung von heruntergekommenen Holzhäusern. Überall liegt Unrat herum. Eine brutale Hitze, eine beklemmende Luftfeuchtigkeit und der Lärm der Zikaden empfängt sie. Die Einheimischen laufen in dreckigen und von der Sonne gebleichten Kleider herum. Eine unerträgliche Spannung liegt in der Luft, als ob in jedem Augenblick die Atmosphäre explodieren könnte. Der Zuschauer wartet auf diesen Moment – der nicht kommt – mit Angst. Die Dorfbewohner besitzen alle die gleichen Gesichtszüge … Inzest? Als ein Kind mit Down-Syndrom mit seinem Banjo zu spielen beginnt … entspannt sich vorübergehend diese beklemmende Lage. Für mich (Fabrizio) eine der beeindruckendsten Szenen der Filmgeschichte.

Es ist noch ein weiter Weg bis zum nächsten Dorf Amèlie-les-Bains. Die Piste ist jetzt leicht zu befahren und mündet kurze Zeit später in eine geteerte Bergstrasse.

Als wir gegen 15:00 in Vingrau ankommen, stehen Irene und Ueli bereits beim Dorfeingang am Strassenrand. Abgemacht war es nicht … aber wir alle freuen uns sichtlich über das Wiedersehen. Seit Jahren kommen beiden immer wieder an diesen Ort, «um schnell herunterzukommen». Die Gegend bietet alles was das Herz begehrt: Schroffe Landschaften, beeindruckenden Schluchten, historische Ruinen von Einsiedlern und Katharer-Burgen sowie hübsche Dörfer und Weinkellereien an jeder Strassenecke. Die Weine der Region sind ehrlich, bodenständig und aromatisch. Passen gut zu Wurstwaren, Käse und Fleischgerichten, die wir in rauen Mengen in den kommenden Tagen verspeisen werden.

Das Haus, in dem Ueli und Irene ihre Ferien verbringen, gehört Ueli’s Freund Hans, der vor mehr als 20 Jahren diesen Hausteil inmitten von Vingrau für einen Butterbrot gekauft und in mühseliger Arbeit jahrelang renoviert hat. Es ist ein typisches Haus der Region. Es ist schmal und hat drei Stockwerke, die über eine enge und steile Treppe verbunden sind. Zuoberst unser Schlafzimmer, ganz unten Dusche und Toilette. Von oben nach unten … eine halbe Weltreise! In der Mitte die Küche: ein einfacher Gasherd, ein Wirtshaustisch aus recyceltem Holz, ein Holzbüffet, ein Waschtrog mit einem ständig tropfenden Wasserhahn sowie eine tickende Wanduhr bilden das karge Inventar. Es genügt. «Mehr Komfort ist nicht nötig» sagen Ueli und Irene überzeugt.

Vingrau erlebt momentan einen Zufluss an neuen Einwohner. Es war in der Vergangenheit nicht immer so. So wie überall auf dieser Welt, versuchen insbesondere jungen Leute ihr Glück in den Grossstädten. Zurück bleiben die «Alten». Diese Entwicklung spiegelt sich in den vernachlässigten Weinbergen, die die Talsohlen und Berghänge säumen. Sehr schnell bekommt die Natur wieder Oberhand und die Rebstöcke verschwinden zwischen Eichen, Wacholdersträucher und schnell wachsenden Pionierpflanzen.

Beeindruckend sind die unzähligen Trockenmauern, mit denen die Berghänge zur Vereinfachung der Bewirtschaftung terrassiert wurden. Die Steine sind präzis aufeinandergestapelt und auch nach langer Zeit widerstehen sie stolz und meist intakt die Kräfte der Natur. Meisterwerke! Werke, die für die Ewigkeit gedacht waren. Werke, die für künftige Generationen hätten erhalten bleiben sollen. Dies ist ein Konzept, das die heutige «Quartalsgewinn orientierte Wirtschaft» nicht mehr versteht. Was nicht sofort Gewinn bringt, wird nicht angegangen. Die geltende Devise: unendliche Gewinnsteigerung in einer endlichen Welt aus Teufel komm raus!

Und darüber hinaus, wer hätte heute noch Zeit und Geld, um diese Gewaltsarbeit zu leisten? Horden von Excel-Fetischisten würden aus Kostengründen sofort Alarm schlagen und solchen Vorhaben schnell den Gar aus machen.

Wir erkunden die nähere Umgebung. Ueli und Irene sind während zwei Tage unsere Touristenführer und «entlüften» uns die Geheimnisse der Region. Sabine und ich sind einhellig der Meinung, dass wir hierher zurückkommen werden.

Ach, ich hätte fast vergessen: Noch drei Bemerkungen:

Bemerkung 1: beim Abschied in Figueres bekamen wir von Tom und Christina ein Fass frischen Sangria geschenkt. Tom sagt uns nicht ohne Stolz: «die Sangria haben wir von einem Holzfass gezapft!» Lieber Tom, liebe Christina eure Sangria schmeckt echt vorzüglich (auch ohne Orangensaft), nicht zu süss, dafür körperreich und … Mensch … der Alkoholgehalt von 15%Vol. haut einem nach nur einem Glas um!

Bemerkung 2: Vingrau pflegt eine Tradition, die uns komplett fremd ist. Mitteilungen der Gemeinde werden über dröhnende Lautsprecher der Bevölkerung bekannt gegeben. Sie werden von Militärmusik begleitet. Überall im Dorf sind Lautsprecher installiert … und so durften wir erleben, wie um 08:30 am Morgen der Verkauf von frischen Früchten und Gemüse auf dem Dorfplatz angepriesen wurde. Darauf waren wir ganz und gar nicht vorbereitet. Wir sassen am Frühstückstisch und knabberten an der frischen Baguette, als wir von der Militärmusik überrascht wurden. Ich fragte Ueli, ob er einen neuen Klingelton auf seinem Smartphone installiert habe, was er mit einem breiten Lächeln verneinte. Für die Schwerhörigen und die Unaufmerksamen wurde die Mitteilung ein zweites Mal wiederholt.

Bemerkung 3: In Vingrau wir der Schinken nicht nach Gewicht, sondern nach der Anzahl gewünschten Scheiben verkauft. Die Besitzerin des lokalen Lebensmittelladens fragte uns «wie viele Scheiben möchten Sie». Wir reagierten auf diese Frage etwas verdutzt, weil je nach Dicke der Scheibe ist das Gewicht anders … und glaubt uns … die Scheiben sind in Vingrau ziemlich dick!

 

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