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Chefchouen: Medina
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  • Beitrag zuletzt geändert am:Januar 28, 2025
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Marokko 2022: Reisetagebuch

28. September - 8. Oktober

Genova - Fès

 

Das Wichtigste in Kürze:

Nach 23 Jahren berühren wir wieder marokkanischen Boden. Wir sind noch in der Lernphase (Kultur, Gewohnheiten, Fahrstil). Die Grossstadt Tetuan überrascht uns mit seiner unter Unesco Weltkulturerbe geschützte Medina.  Die blaue Stadt Chefchouen im Rif Gebirge mit seinen blauen Gebäuden hat uns besonders angetan. Nicht zuletzt Fès mit seiner gigantischen Medina und die geruchsstarken Gerbereien hat sich für immer in unser Gedächtnis eingebrannt. 

 

Klicke auf das Piktogramm, um die Animation der gefahrenen Strecke zu sehen

 

Prolog:
Auf dem Weg nach Tanger hat unsere Fähre in Barcelona Halt gemacht und wir nehmen uns Zeit, die letzten Tagen Revue passieren zu lassen. Nach knapp drei Monaten zu Hause war der Drang wieder „unterwegs zu sein“ gross.  Wir haben die Annehmlichkeiten in unseren vier Wänden genossen, Freunde besucht und empfangen und Hannibal einem Service unterzogen. Die Fehlfunktion der hinteren Differentialsperre erweist sich als eine knifflige Sache. Die Frage, ob es sich um eine Fehlfunktion, eine Fehlmontage oder ein defektes Produkt handelt, ist bis zurzeit unbeantwortet geblieben. Tatsache ist, dass der Garagist uns «noch» keine Kosten für die Reparaturarbeiten in Rechnung gestellt hat.

Zuhause hatten wir auch Zeit, unsere bereits vor Spanien festgelegte Route durch Marokko zu überprüfen, allfällige Anpassungen vorzunehmen und diverse administrative Aufgaben zu erledigen.


Freitag, 23. September

Als wir uns in Richtung Süden aufmachen, löst sich die Anspannung schnell in Luft auf. Zwar treffen wir kurz vor Chur auf den ersten langen Stau (was uns in der Schweiz nicht mehr überraschen darf), aber dies verdirbt uns unsere Vorfreude, bei Fabrizios Schwester im Tessin drei wunderschöne Tage zu verbringen, kaum. Allerdings gehen diese aber leider viel zu schnell vorbei.


Mittwoch, 28. September

Wir erreichen Genova am frühen Nachmittag. Die Fahrt war «easy» auch wenn, das Strassen-Wirrwarr in Genova einem zur Verzweiflung bringen kann. Im Camping Villa Doria, ca. 10 km vom Hafen entfernt, übernachten wir und erleben in der Nacht die Invasion von holländischen Wohnmobilen. Kurz nach 21:00 Uhr überfällt eine Kolonne von mindestens zwanzig Wohnmobilen den bereits eingeschlafenen Campingplatz. Generalstabsmässig versucht der Campingplatzmanager die Wohnmobile zu ihren Stellplätzen zu lotsen. Es geht zu und her wie auf dem Flughafen Zürich zur Stosszeit.

Viel zu grosse Fahrzeuge versuchen, auf dem relativ kleinen Platz zu wenden und rückwärts in die zugewiesenen Parzellen einzuparken. Meistens steht die Frau des Fahrers draussen und gestikuliert mit einer Taschenlampe wie viel noch bis zur Abgrenzung oder bis zum Nachbarfahrzeug fehlt. Wenn alles in Ordnung ist, klopft sie mit mehreren dezidierten Schlägen auf die Rückseite des Wohnmobils. Das ist das Signal, dass der Motor endlich ausgeschaltet werden darf. Ein ermüdeter Fahrer steigt aus und begutachtet argwöhnisch die Lage. Ist er nicht zufrieden, folgen nicht selten mühselige Feinabstimmungen.

 

Donnerstag, 29. September
Viel zu früh müssen wir heute Morgen aufstehen. Gemäss den Angaben der Reederei haben wir uns um 08:00 auf dem Steg hinter der Fähre einzufinden. Als wir dort ankommen, stehen bereits unzählige Fahrzeuge vor uns. Diese sind bis zum Bersten mit Gegenständen, Fahrrädern, Lebensmitteln, Hygieneartikeln u.v.m. beladen. Nicht selten türmt sich auch auf dem Fahrzeugdach «ein Berg Ware». Dieser ist «abenteuerlich» mit Spannsets zum Fahrzeugdach «gesichert». Durch das Gewicht schleifen die Karosserien fast am Boden.

Dass es diese Fahrzeuge bis hierhergeschafft haben, grenzt an ein Wunder. Die Not nach zwei Jahren Covid muss in Marokko gross sein. Die Menschen, die es «geschafft» haben, im Ausland Arbeit zu finden, werden zum «Rettungsanker» für die ganze Verwandtschaft.

Wir haben im Jahr 1999 eine ähnliche Situation auf dem Flughafen von Nassau erlebt, als sich die Exilkubaner auf dem Weg zurück in ihre Heimat mit gewaltigen Gepäcksbergen am Flughafen-Check-In einfanden. Wenn wir darüber nachdenken, staunen wir noch heute, wie es das Flugzeug überhaupt geschafft hat, von der Piste abzuheben.

Die knappen 50 Stunden auf der Fähre vergehen wie im Fluge. Ausser schlafen, lesen, essen und in regelmässigen Abständen an Deck zu gehen, um frische Luft zu schnappen, bleibt nicht viel zu tun. Die Fähre gewinnt mit Sicherheit keinen Schönheitspreis: Der ehemalige Event-Saal dient als Schlafplatz, das leere Swimmingpool ist mit einem Netz überspannt und wird von den rauchenden Passagieren als gigantischer Aschenbecher missbraucht und das Selbstbedienungs-Restaurant hat den Scharm einer Militärkantine. Hinzu kommt, dass das Personal – hauptsächlich asiatischer Herkunft – kein Wort italienisch spricht.

Wir treffen auf einen Italiener, der seit mehr als 25 Jahren die Strecke Genova-Tanger mehrmals jährlich zurücklegt. Er kommentiert die Entwicklung: «Am Anfang hatten wir noch Live-Musik und Tanzabende, heute ist alles dem Profit und der Sparwut zum Opfer gefallen.» Wir nicken zustimmend.


Freitag, 30. September

Highlight des Tages ist die Erledigung der Zollformalitäten. In Barcelona, dem einzigen Stopp auf dem Weg nach Tanger, sind zwei Funktionäre der marokkanischen Zoll- und Polizeibehörde an Bord gestiegen. Per Zufall bekommen wir mit, dass wir unseren Pass abstempeln lassen und für Hannibal eine temporäre Einfuhrgenehmigung beantragen müssen. Geschlagene vier Stunden warten wir geduldig, bis wir dran sind. Bei der Einfuhrgenehmigung von Hannibal erleben wir kurz einen Panikmoment, da wir den Führerschein im Fahrzeug vergessen haben und nur über eine Fotokopie verfügen. Der Beamte schaut uns argwöhnisch an und murrt: «Sie wissen, dass das nicht in Ordnung ist.» Wir entschuldigen uns tausendmal. Schlussendlich bekommen wir die Einfuhrgenehmigung und begiessen diese Errungenschaft mit einem kalten Bier.

 

Samstag, 1. Oktober
Gegen 12:00 (marokkanische Zeit) legen wir in Tanger an. Der Versuch der Fähr-Mannschaft etwas Ordnung in die Entladung der Fähre zu bringen, entpuppt sich als Rohrkrepierer. Kaum sind die Marokkaner in ihre Fahrzeuge eingestiegen (nachdem Kinder, Frau und Gepäck reingequetscht wurden), laufen schon die Motoren heiss. Die Luft auf den Parkebenen unter Deck wird in kurzer Zeit von den Abgasen verpestet. Zwei Fahrzeuge hinter uns legt sich ein Italiener mit einem Marokkaner an, der seinen Motor auf Teufel komm raus nicht abstellen will. Grobe Drohungen und Gefluche durchschneiden die dicke Luft. Verdutzt beobachten einige Unbeteiligte das Geschehen und schütteln als Zeichen ihres Unverständnisses den Kopf.

Ein überforderter Mitarbeiter versucht, Ordnung ins Chaos zu bringen, handelt beschwichtigend und lotst die Fahrzeuge (ohne Kollisionen) aus dem Bauch der Fähre heraus. Draussen empfängt uns die Sonne.

Ein erster Beamte überprüft unseren Pass, ein zweiter unsere Einfuhrbewilligung. Nach knapp dreissig Minuten sind wir aus dem Zollgelände raus, wechseln unser Geld, kaufen eine SIM-Karte und fahren zum B&B Villa Marine in Ksar Sghir. Hier atmen wir die marokkanische Luft erstmal bewusst und tief ein.

Calogero, ein Mann mit stattlicher Postur (Harley Davidson-Enthusiast, ehemaliger Fremdlegionär, Restaurantbesitzer, Kaviarimporteur, Verkäufer seltener Weine, Rückbauer von nicht mehr benutzten Nuklear-Raketen-Silos, Sozialarbeiter und Bodyguard französischer Prominenz …) und seine schmächtige Frau Mary (ehemalige Krankenschwester beim roten Kreuz) führen seit drei Jahren das B&B.

Calogero ist ein begabter «Storyteller». Stundenlang erzählt er uns seine Räubergeschichten als Fremdlegionär, gibt Anekdoten seiner Beruflichen Abenteuer zum Besten, gibt uns Tipps wie wir beim Tanken nicht von den Tankangestellten über den Tisch gezogen werden, erzählt uns wie sein Nachbar im Gefängnis landete als die Drogenpolizei bei ihm 85 Tonnen Haschisch aufspürte und findet zwischendurch noch die Zeit, uns ein exzellentes Nachtessen zu kochen.

 

2. – 5.10. – Tanger – Fès

Sonntag, 2. Oktober, Tanger – Tetuan
Wetter: Sonnig mit leichter Bewölkung. Es bläst ein stürmischer Wind. 17-22°C

Wir haben gut geschlafen. Obwohl die Hunde der Nachbarschaft die ganze Nacht Party gefeiert haben, sehen unsere Gesichter entspannt und frisch aus. Wir freuen uns, hier in Marokko zu sein und auf das, was noch kommt.

Calogero hat uns ein üppiges Frühstück vorbereitet. Wir lassen uns dabei viel Zeit. Frische Pains au Chocolat, Croissants, Brötchen, Fladenbrot, haugemachte Erdbeerkonfitüre, einen leckeren frischgepressten Orangesaft, Honig und Frischkäse. Abgerundet wird das Ganze mit einem starken Kaffee.

Und dann fällt während des Frühstücks unangekündigt der Strom aus. Calogero flucht vor sich hin: «Schon wieder! Jeden Sonntag die gleiche Geschichte! Letzte Woche blieb er ganze fünf Stunden weg!». Er ist kaum zu besänftigen … und wir müssen uns unseren zweiten Kaffee ans Bein streichen. No Power, no coffee!

Die Strompanne zieht sich in die Länge. Der Kartenleser ist deshalb ausserbetrieb und wir können unsere Rechnung nicht begleichen … bis uns ca. 2 Stunden später in den Sinn kommt, dass wir dies auch mit einer Barzahlung erledigen können. Gesagt getan. Wir verabschieden uns mit etwas Wehmut von Calogero und Mary. Innerhalb kürzester Zeit haben wir sie mit ihrer ungezwungenen Freundlichkeit ins Herz geschlossen.

Ausserhalb von Ksah Sghir folgen wir der Strasse RR401. Sie verläuft zu Beginn durch ein breites Tal, bevor sie langsam in die umliegenden Hügel ansteigt. Ausgedörrte Landwirtschaftsflächen stehen der Strasse Spalier. Viel wild deponierter Unrat, Bauschutt und Abfall jeglicher Art begleiten unsere Fahrt: Plastiksäcke, die sich im Gestrüpp verfangen haben, flattern wie farbige Fahnen im starken Wind. Schon 1999, als wir zum letzten Mal in Marokko waren, ist uns aufgefallen, wie wenig Achtung die Menschen hier ihrer Natur schenken. Es scheint, dass sich in den vergangenen 23 Jahren kaum etwas verändert hat.

Wir fahren langsam. Calogero hat uns gewarnt, dass freilaufende Tiere, Lastwagen und Taxis zum Sicherheitsproblem werden können, da ihr Verhalten unberechenbar ist. Wir treffen kaum auf Verkehr, abgesehen von ein paar streunenden Hunden, die sich, als wir vorbeifahren, geschickt an den Strassenrand ausweichen und zwei ausgemagerten Eseln, die uns keinen Blick würdigen. Der sehr starke Wind bläst Hannibal fast von der Strasse und der von den Windböen aufgewirbelte Sand verpasst Hannibal ein unsanftes Peeling.

Tetuan hat sich bei der Gestaltung seiner Hauptzufahrtsachsen nicht lumpen lassen. Eine mit Kandelaber verzierte dreispurige Strasse und eine breite Flaniermeile mit einem sattgrünen Rasenstreifen mit Palmen heissen uns «Willkommen». Der Verkehr ist dicht und wir machen unsere erste Erfahrung mit dem marokkanischen Fahrstil (hupen, zig-zacken, vordrängen, ohne Vorwarnung stoppen und abbiegen). Fussgänger in selbstmörderischer Laune überqueren die Fahrspuren mutig und selbstbewusst (auf und neben den Zebrastreifen).

Sabine hat im Vorfeld im Riad Dar Achaach zwei Nächte gebucht. Es handelt sich um eine sehr schöne arabische Villa mit Garten eines angesehenen ehemaligen Mitarbeiters der Betonwerke von Tetuan, der in diesem vornehmen Haus aufgewachsen ist. Sie liegt am Berghang vis à vis  des Zentrums, von wo man einen unverbauten Blick auf die Halbmillionenstadt geniessen kann.

Als wir im Riad Dar Achaach ankommen, öffnet uns ein hagerer und fast zahnloser Gärtner das Eingangstor zum Garten. Er lacht uns freundlich zu, murmelt leise etwas Unverständliches und weist uns zu unserem Parkplatz. Die Eingangshalle der Villa ist mit schönen Marmorplatten belegt. Rund um die Halle befinden sich ein Speisesaal, ein Raum mit bunten Teppichen und Sitzpolstern (die einem zum Ausruhen einladen) und der Zugang zu den Zimmern. Vergilbte Familienbilder aus einer vergangenen Zeit verzieren die Wände. Zwei Kanarienvögel in ihren viel zu kleinen Käfigen singen sich ihr tragisches Schicksal von der Seele.

Tetuan ist für seine unter Unesco Weltkulturerbe geschützte Medina und für den Königspalast bekannt und sicherlich einen Besuch wert. Da wir seit unserem Frühstück in Ksar Sghir nichts mehr zwischen die Zähne bekommen haben, laufen wir gegen 16:00 in die Stadt auf der Suche nach einem Restaurant. Im Diamond (Hotel, Restaurant und Patisserie) werden wir fündig. Wir verspeisen die ersten Tajines (Poulet und Gemüse). Sie sind köstlich! Für heute genug.


Montag, 3. Oktober, Tetuan
Wetter: Milchiger Himmel (wir wissen nicht, ob es sich um Staub oder Rauch handelt). Der gestrige Wind hat sich gelegt. Temperatur 22-30°C

Nach dem üppigen Frühstück lassen wir uns vom Hausbesitzer bis in die Nähe des Königpalastes chauffieren. Dieser ist leider für das Publikum nicht zugänglich und wird von der «Garde Royal» gut bewacht. Wir fragen einen Polizisten, ob es erlaubt sei, ein Bild zu knipsen, er nickt zustimmend.

Am südlichen Rand des Königspalastes beginnt die Medina. Wir tauchen in den Wirrwarr der engen Gassen ein und lassen uns wie Holz wahllos im Meer «treiben». Eine unbekannte Welt von Gerüchen, Geräuschen und Farben wartet auf uns. Hier ist der Bereich der Gemüsehändler, dort derjenige der Metzger (unschwer erkennbar am strengen Geruch des Fleisches und an den vielen Fliegen), danach das Quartier der Brotbäcker gefolgt von demjenigen der Juweliere …). Fast alle handwerklichen Berufe sind in der Medina anzutreffen. Nicht alle haben ihr eigenes Lokal oder verfügen über eine eigene Ladenfläche. Die Ärmeren Händler sitzen an eine Wand gedrückt ganz einfach im Schneidersitz am Boden und bieten von dort ihre Ware an. Meistens handelt es sich um verwelkte Pfefferminz- oder Petersilienstauden, manchmal auch um frisches Gemüse. Mit ihnen teilen die streunenden Katzen und Kätzchen die engen Platzverhältnisse. Von ihnen wimmelt es nur so hier in Marokko. Den meisten geht es schlecht. Hinkend, halbblind und von Kämpfen gezeichnet betteln sie laut miauend den Menschen um Futter und manchmal auch um Zuneigung an.


Die Medina ist ein gigantisches Kaleidoskop für die Sinne. Die Arbeitsbedingungen sind teilweise erbärmlich. Menschen sind ohne Schutz dem Rauch, giftigen Gasen, Dämpfen und Flüssigkeiten ausgesetzt. Hier sucht man vergebens nach Belüftungen/Entlüftungen, nach persönlichen Schutzausrüstungen, nach Massnahmen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes.

Irgendwann gelangen wir zu den berühmt berüchtigten Gerbereien. Diese haben sich bereits von Weitem angekündigt. Nichts für zarte Gemüter und schwache Mägen. Die Becken, in denen die Tierfelle unterschiedliche Bearbeitungsschritte durchlaufen, sind zwar bis auf wenige leer, aber der Gestank von toten Tieren hängt «störrisch» in der Luft und hat sich in den Gemäuern der umliegenden Häuser eingenistet. Er trifft uns wie eine unerwartete Ohrfeige mitten ins Gesicht. Wir beobachten aus sicherer Entfernung wie zwei Angestellte mit Holzstäben die Haare von den Häuten abschaben. Ein «schlabbriges» graues Gewebe kommt zum Vorschein. Nach getaner Arbeit landet die Haut in einem Becken, das mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllt ist, «platsch, platsch». Wir werden in ein paar Tage in Fes auch eine Gerberei besichtigen. Dort stehen die Menschen (barfuss und in kurzen Hosen) teilweise bis zur Hüfte in einer trüben Suppe und waschen die vorher in einem Aufguss mit Taubendung eingeweichten Häute, bevor sie in weitere Becken zum Färben eingetaucht werden. Zum Schutz vor den verwendeten Mitteln ölen sich die Arbeiter Arme und Beine ein -heute seien es gegenüber früher (Ammoniak) natürliche Ingredienzien, versichert uns der Führer.

Für uns «Bürogummis» sind diese Arbeitsbedingungen unvorstellbar. Wie bringen diese Menschen den Geruch wieder weg? Hier eine Analogie, die Sabine am eigenen Leib erfahren hat: Als junge Management-Trainee für ein Warenhaus wurde sie während der Weihnachtszeit für zwei Wochen in die grosse Lebensmittelabteilung geschickt, um hinter einer Theke kiloweise Lachs zu verkaufen (wohlverstanden dies ist nicht mit dem Geruch in einer marokkanischen Gerberei zu vergleichen). Kam sie am Abend nach Hause, liefen unsere beide Katzen Amok. Sie schnupperten an ihren Beinen und konnten es sich nicht verkneifen, ihr sanft in die Hosenbeine zu beissen. Selbst nach wiederholtem Duschen wurde Sabine den Lachsgeruch nicht los. Erst eine Woche nach Beendigung des Praktikums rochen unsere Katzen nichts mehr.


Dienstag, 4. Oktober, Tetuan – Chefchaouen
Wetter: Weiterhin milchig (wahrscheinlich handelt es sich um Rauch. Überall verbrennen Menschen/Bauern Gestrüpp/Abfall. Ein beissender Geruch von verbranntem Plastik liegt in der Luft). Temperatur 22-30°C

Knapp 60 km von Tetuan entfernt liegt im Rif-Gebirge die blaue Stadt Chefchaouen. Blau, weil die Häuser der Altstadt allesamt mit blauen Pigmenten gefärbt sind. Südlich von Tanger ist sie DIE Touristenattraktion. Nachdem wir Hannibal im Campingplatz Azilan parkiert haben – er liegt oberhalb der Stadt und ist die 110 MAD/Nacht absolut Wert – wandern wir die 1.5 km durch den lichten Kiefernwald in die Stadt hinunter. Wie zu erwarten, treffen dort wir auf Unmengen von Souvenirläden und dichten Personenverkehr. Alle Touristen scheinen im «Selfie-Modus» unterwegs zu sein. Um ein Bild von sich selbst zu knipsen, scheuen sie nicht davor zurück, ganze Gassen in Besitz zu nehmen und für andere (bis ein Bild in der «richtigen Posen» im «Kasten ist») zu blockieren.

Nichts destotrotzt gefällt uns Chefchaouen sehr.


Mittwoch – Freitag, 5.-7. Oktober, Chefchaouen – Fès
Wetter: Weiterhin bedeckt, ab und zu drückt die Sonne durch. Temperatur 30-32°C

Erst nach 11:00 können wir – nach einem interessanten Austausch mit einer jungen Familie aus der Ostschweiz, der Beschwichtigung eines wegen des Zustands seines 4×4 in Panik geratenen unerfahrenen Franzosen und der längeren Prozedur, die das Aufladen der Maroc Telekom- SIM-Karte benötigt, Richtung Fes aufbrechen.

Kurz vor Ouezzane stoppen wir für ein Mittagessen. Allerdings müssen wir uns im APIA Café um 12:30 mit einem Frühstück begnügen: Uns wird eine «Kichererbsen-Mehlsuppe» mit Oliven und eingelegten Peperoncini und ein in Fett konserviertes fasrig gekochtes Rindfleisch mit zwei Spiegeleiern aufgetischt, dazu ein Korb Fladenbrot. Durchaus sättigend. Danach kaufen wir im dazugehörenden Shop ein Glas «Amlou», ein Brotaufstrich auf der Basis von Mandeln, Arganöl und Honig. Sehr schmackhaft, wie wir am nächsten Morgen beim Frühstück feststellen.

Frisch gestärkt machen wir uns auf die von Kohlberg empfohlene, wenig befahre Route zum El Wahda-Staudamm auf. Wir fahren stundenlang durch eine Hügellandschaft, wie wir sie von Andalusien kennen, mit Olivenhainen und Feldern, die für die Winteraussaat vorbereitet wurden. Kleine Siedlungen und Dörfer kündigen sich durch wild deponierten Plastikabfälle an. Ein für uns nur schwer erträgliches Bild. Schade. Perplex lässt uns auch, dass wir von Kindern auf der Strasse gestoppt und angebettelt werden und kurz darauf wird uns, als wir an einer Schule vorbeikommen, etwas nachgeworfen …

Die schmale asphaltierte Strasse ist vom Staudamm bis fast nach Fès in einem sehr schlechten Zustand. Löcher und Absenkungen lassen uns nur langsam vorwärtskommen. So gelangen wir am Abend in den gewaltigen Stossverkehr der Zweimillionenstadt und erleben hautnah den Stau des Berufsverkehrs.

Müde und abgekämpft erreichen wir die Ferienanlage Diamant Vert. Die Begrüssung beim Einchecken ist sehr zurückhaltend, auch erhalten wir keine Antwort auf die Frage wo und wann der Bus nach Fes fährt. Der Campingplatz ist jedoch sauber, auch wenn bei den Frauen die Duschen meist nur kalt funktionieren.

Auf dem Platz treffen zuerst auf unsere Deutschen Nachbarn in Chefchaouen und dann auf die junge Familie mit Hund der Rasse Malinois aus dem Appenzellerland. Wir entscheiden uns alle zusammen für eine geführte Tour nach Fèz.

Mit Kind, Hund, Hundebesitzern und Führer besteigen wir am nächsten Morgen das Taxi und fahren zur Bab Boujloud (Eingangspforte) der gewaltigen Medina: Sie weist mehr als 9’000 Gassen aus, ist grösser als 35 Hektaren mit rund 350’000 Einwohnern.

Nach ca. 6 Stunden und 10’000 Schritten besteigen wir gesättigt (und dies nicht nur vom vorzüglichen Essen in einem marokkanischen Dar) und müde wieder das Taxi. All unsere Sinne wurden bis zum Bersten gereizt. Der Orientierungssinn musste sich beim Laufen durch die engen und verwinkelten Gassen zuerst geschlagen geben. Die Augen konnten sich am filigranen Kunsthandwerk der Medersa Bou Inania oder eines zu einem Hotel umgestalteten andalusischen Palasts und dem vielfältigen Lebensmittelsouk nicht satt sehen. Die Ausdünstung von Ware, Mensch und Vieh (Katzen und Esel) vermischen sich zu einem intensiven Parfum, das im Gerbereiviertel seinen Kulminationspunkt findet. Zur Dämpfung des bestialischen Gestanks werden uns Pfefferminzzweige (natürlicher Filter für die Nase) überreicht, bevor wir das Dach einer Ledermanufaktur mit Blick auf die Gerberei besteigen. Beim Betrachten und Befühlen der feinen Lederjacken, der marokkanischen Babouche (Pantoffeln), der Taschen etc. kann man sich kaum vorstellen, welch unmenschliche und menschenunwürdige Arbeit hinter diesen Kunstwerken steckt. Ein Ladenangestellter mit gepflegtem Hochdeutsch spricht uns an und zeigt uns das Sortiment an Lederjacken und -mänteln. «Bitte schaut hierher», ruft er uns zu und versucht mit einem Zigarettenzünder eine Lederjacke in Brand zu setzten. «Echtes Leder! Wäre es eine Imitation, würde sie lichterloh brennen» versichert er uns. «Bitte schaut hierher» doppelt er nach und übergiesst ein Ledermantel mit Wasser. «Echtes Leder bekommt keinen Wasserflecken, wenn es nass wird». Nach so viel Kühnheit probiert Sabine endlich eine schmucke Lederjacke an. Sie passt wie angegossen. «Wie viel?» fragen wir automatisch und merken nicht, dass wir uns somit in ein Verkaufsgespräch hineinmanövriert haben. «280 Euros» ist die Antwort wie aus der Pistole geschossen. Wir zögern und retten uns aus der Affäre, indem wir behaupten, wir würden auf dem Rückweg wieder vorbeischauen.

Fasziniert und endlich kaufbereit zeigen wir uns dann bei einer Weberei, die scheinbar noch nach alter Methode Tücher webt. Ein Show-Webstuhl für die Touristen wurde im Laden inmitten von Stoff-Türmen eingerichtet. 300 weitere Webstühle sind in Privathaushalten für die Cooperative im Einsatz.

 

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